Die Geschichte ist universell und sie geschieht fast berall hier im westlichen Europa: M„dchen aus der ehemaligen Sowjetunion werden ber die Grenze gebracht und mit brutaler Gewalt gezwungen, anschaffen zu gehen. Man liest die Schlagzeilen, aber sieht und h”rt nicht die Menschen, die dahinter stehen. Jetzt, mit Lukas Moodyssons neuem Film, haben sie ein Gesicht. Das Gesicht von Lilja, 16 Jahre, aus - so will es der Film - einem "unbestimmten Land der ehemaligen Sowjetunion", denn es geht hier nicht um ein Einzelschicksal, sondern die stellvertretende Geschichte eines M„dchens fr die von Tausenden.
Dabei sind die Themen, um die Moodysson kreist, gleich geblieben. Um Flucht ging es auch in den beiden vorherigen Werken. In dem einen wollten die beiden jugendlichen Protagonistinnen "Raus aus Amal", waren zum Schluss immerhin verliebt und selbstbewusst und wussten, dass sie es irgendwann schaffen wrden. In "Zusammen" flchtete nicht nur eine geprgelte Ehefrau in die Kommune, auch fr die anderen Mitbewohner ist das WG-Leben eine Flucht aus verschiedensten privaten Problemen und Lebenssituationen, in die illusorische Idylle der Kommune. Aber die Idylle blieb letztendlich (unter ver„nderten Vorzeichen) doch erhalten, und am Ende hatten sich alle lieb, beim Fuáballspiel mit Kinderlachen. In "Lilja-4-ever" gibt es keine Illusion mehr, keinen Ausweg. Es mag eine bessere Welt geben als die, in der sich Lilja bewegt, aber sie wird es nie wissen, wird nie eine andere Welt kennen lernen. Ihre Welt ist eine Welt des Schmerzes.
"Lilja-4-ever" ist auch und vor allem ein Film ber Verrat und entt„uschtes Vertrauen, denn Lilja strzt nicht eigenh„ndig ab, sondern bekommt auf jeder Stufe einen neuen Stoá: Von der Mutter verraten, die ohne das st”rende Kind ein neues Leben in den USA anfangen will. Von der Tante verraten, die Lilja aus deren groáer sch”ner Wohnung vertreibt, um dort selbst einzuziehen. Von der besten Freundin verraten, die Lilja in die Welt der Prostitution einfhrt und diese dann opfert, um ihren eigenen Ruf zu wahren. Und schlieálich von dem freundlichen jungen Mann verraten, der ihr ein neues Leben in Schweden als Gemsepflckerin verspricht. Der einzige, der Lilja nicht in der einen oder anderen Art missbraucht ist Volodnya, der ebenfalls von der Familie verstoáene Nachbarsjunge. Zusammen versuchen die beiden ihr Bestes, um in Dreck und Armut nicht unterzugehen. Man windet sich als Zuschauer im Kinosessel, man betet f”rmlich
fr ein bisschen Hoffnung, meinetwegen auch ein bisschen verkl„renden
Kitsch. Diesen Gefallen tut einem der Film nicht. Er geht seinen
Weg konsequent zu Ende. Man will fast heulen. Als Lilja von ihrer
rosigen Zukunft in Schweden tr„umt, m”chte man so sehr,
dass dies der Beginn eines besseren Lebens ist, und weiá doch
genau, dass es nur noch tiefer in den Abgrund gehen wird. Allerdings
- und das ist wiederum eine der groáen Leistungen des Films
- es wird einem klar, warum sie darauf eingeht, warum sie Volodniyas
Warnungen in den Wind schl„gt, warum der Einwand, dass es im
Winter in Schweden gar kein Gemse gibt, zur Seite gewischt
wird. Eine Binsenweisheit eigentlich, aber wahr und wahrhaftig:
Lilja mag alles verloren haben und nichts mehr besitzen, aber sie
braucht ihre Tr„ume. Denn
Und wieso rechtfertigt dieser eigentlich unsehbare Film jetzt die H”chstnote? Weil er wirkt. Und nachwirkt. Weil sich ganze Sequenzen in die Netzhaut der Zuschauer brennen. Weil man ihn nie wieder vergisst. Als Nietzsche sagte "Wenn Du lang genug in den Abgrund hineinschaust, schaut der Abgrund in Dich hinein", muss er so etwas gemeint haben. Moodysson zwingt seine Zuschauer, in den Abgrund zu starren und dieser starrt einem bitter ins Gesicht, ohne zu zwinkern, ohne dem Blick auszuweichen. Ein erschtterndes, bedrohlich schleichendes Monster von einem Film. |
Bilder: Courtesy of Arsenal Film, Copyright 2003 |
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