Die Geschichte ist universell und sie geschieht fast berall hier im westlichen Europa: M„dchen aus der ehemaligen Sowjetunion werden ber die Grenze gebracht und mit brutaler Gewalt gezwungen, anschaffen zu gehen. Man liest die Schlagzeilen, aber sieht und h”rt nicht die Menschen, die dahinter stehen. Jetzt, mit Lukas Moodyssons neuem Film, haben sie ein Gesicht. Das Gesicht von Lilja, 16 Jahre, aus - so will es der Film - einem "unbestimmten Land der ehemaligen Sowjetunion", denn es geht hier nicht um ein Einzelschicksal, sondern die stellvertretende Geschichte eines M„dchens fr die von Tausenden.

"Lilja-4-ever" ist ein Schock. Nicht nur wegen dem, was der Film zeigt, sondern weil es der neue Film von Lukas Moodysson ist. Der Schwede hatte mit "Raus aus Amal" einen der groáartigsten Coming-of-Age-Filme berhaupt hingelegt, und mit "Zusammen!" eine niedliche, harmlos-nette 70er Jahre-Reminiszenz aufs lustige WG-Leben. Sicher, Bitterkeit und Ernst war in beiden Filmen zu spren, erst dadurch wurden sie groá. Aber nichts, auch gar nichts in Moodyssons bisherigem Schaffen bereitet einen auf diesen Film vor.

Dabei sind die Themen, um die Moodysson kreist, gleich geblieben. Um Flucht ging es auch in den beiden vorherigen Werken. In dem einen wollten die beiden jugendlichen Protagonistinnen "Raus aus Amal", waren zum Schluss immerhin verliebt und selbstbewusst und wussten, dass sie es irgendwann schaffen wrden. In "Zusammen" flchtete nicht nur eine geprgelte Ehefrau in die Kommune, auch fr die anderen Mitbewohner ist das WG-Leben eine Flucht aus verschiedensten privaten Problemen und Lebenssituationen, in die illusorische Idylle der Kommune. Aber die Idylle blieb letztendlich (unter ver„nderten Vorzeichen) doch erhalten, und am Ende hatten sich alle lieb, beim Fuáballspiel mit Kinderlachen. In "Lilja-4-ever" gibt es keine Illusion mehr, keinen Ausweg. Es mag eine bessere Welt geben als die, in der sich Lilja bewegt, aber sie wird es nie wissen, wird nie eine andere Welt kennen lernen. Ihre Welt ist eine Welt des Schmerzes.

Alles ist schrecklich in "Lilja-4-ever", alles ist Leiden. Dagegen sind die Gosse und die sterbenden Babys in "Die Asche meiner Mutter" ein Sonntagspicknick. Dieser Film ist nur fr Hartgesottene, denn mit Spielfilm im klassischen Sinne von ‚Unterhaltung' hat er nichts mehr zu tun. Mit der unvermittelten, hautnahen Sichtweise einer Dokumentation erz„hlt Moodyssons Film von einer Spirale in den Abgrund, einen Abstieg in die Verdammnis, einem Schicksal fr den der Begriff "Das Leben zur H”lle machen" erfunden wurde. Jedes Mal geht es fr die Titelheldin noch ein bisschen tiefer ins Verderben, f„llt sie noch ein bisschen h„rter.

"Lilja-4-ever" ist auch und vor allem ein Film ber Verrat und entt„uschtes Vertrauen, denn Lilja strzt nicht eigenh„ndig ab, sondern bekommt auf jeder Stufe einen neuen Stoá: Von der Mutter verraten, die ohne das st”rende Kind ein neues Leben in den USA anfangen will. Von der Tante verraten, die Lilja aus deren groáer sch”ner Wohnung vertreibt, um dort selbst einzuziehen. Von der besten Freundin verraten, die Lilja in die Welt der Prostitution einfhrt und diese dann opfert, um ihren eigenen Ruf zu wahren. Und schlieálich von dem freundlichen jungen Mann verraten, der ihr ein neues Leben in Schweden als Gemsepflckerin verspricht. Der einzige, der Lilja nicht in der einen oder anderen Art missbraucht ist Volodnya, der ebenfalls von der Familie verstoáene Nachbarsjunge. Zusammen versuchen die beiden ihr Bestes, um in Dreck und Armut nicht unterzugehen.

Man windet sich als Zuschauer im Kinosessel, man betet f”rmlich fr ein bisschen Hoffnung, meinetwegen auch ein bisschen verkl„renden Kitsch. Diesen Gefallen tut einem der Film nicht. Er geht seinen Weg konsequent zu Ende. Man will fast heulen. Als Lilja von ihrer rosigen Zukunft in Schweden tr„umt, m”chte man so sehr, dass dies der Beginn eines besseren Lebens ist, und weiá doch genau, dass es nur noch tiefer in den Abgrund gehen wird. Allerdings - und das ist wiederum eine der groáen Leistungen des Films - es wird einem klar, warum sie darauf eingeht, warum sie Volodniyas Warnungen in den Wind schl„gt, warum der Einwand, dass es im Winter in Schweden gar kein Gemse gibt, zur Seite gewischt wird. Eine Binsenweisheit eigentlich, aber wahr und wahrhaftig: Lilja mag alles verloren haben und nichts mehr besitzen, aber sie braucht ihre Tr„ume. Denn ohne ihre Tr„ume hat sie gar nichts. Dies ist auch die Relevanz des kitschigen Mariengem„ldes, das Lilja als einziges pers”nlich kostbares Eigentum mit sich herumschleppt: Es erinnert sie an ihre Tr„ume und Hoffnungen auf ein besseres Leben. Als sie es verzweifelt zerschl„gt, ist alles vorbei. Moodysson ist auch hier unerbittlich: Er zeigt uns als einzigen Ausweg den Traum, die Illusion, das Was-w„re-wenn, aber es ist kein Ausweg. Engel mit Pappmach‚-Flgeln, Basketball, verwischtes Lachen, soweit nur reicht der Traum. Und ist doch kein Trost.

Die jungen Oksana Akinshina und Ardyom Boguchorsky verleihen den beiden geschundenen jungen Seelen Lilja und Volodniya Aufrichtigkeit und Herz, besonders Akinshina in der Titelrolle mit dem in ihren Augen aufblitzenden Stolz, der sie das dreckige Geld der Prostitution wegwerfen l„sst. Und auch Lukas Moodysson selbst beweist mit diesem Film Mut und Uneitelkeit. Eigentlich ist der Film so, als w„re der Regisseur komplett in den Hintergrund getreten. Ohne wirkliche Dramaturgie (damit aber auch ohne Gefhlsmanipulation des Publikums) und im Stil dokumentarisch l„sst er das Gezeigte fr sich selbst sprechen. Trotzdem zeigt sich seine Klasse, etwa in einer Montage von Liljas Freiern aus ihrer Perspektive, die s„mtliche Abscheu fr das, was diese M„nner dort tun, ohne Worte und kongenial einf„ngt. Seinen Standpunkt zum Thema illegale Prostitution von Minderj„hrigen kann man kaum deutlicher (und dabei ganz ohne Zeigefinger) machen, als es Moodysson in dieser kurzen Sequenz gelingt. šberhaupt: Ein so wichtiges, gleichzeitig lieber totgeschwiegenes Thema so unbesch”nigt darzustellen, einen Film mit Laienschauspielern vor Ort (gedreht wurde in Estland) und in der Originalsprache zu drehen - dies ist nicht der einfache Weg, den Moodysson hier geht. Und trotzdem gewinnt er. Denn durfte man ihn bisher zu den wirklich Guten z„hlen, darf man ihn jetzt einen Groáen nennen. Einen kleinen Groáen, zumindest.

Und wieso rechtfertigt dieser eigentlich unsehbare Film jetzt die H”chstnote? Weil er wirkt. Und nachwirkt. Weil sich ganze Sequenzen in die Netzhaut der Zuschauer brennen. Weil man ihn nie wieder vergisst. Als Nietzsche sagte "Wenn Du lang genug in den Abgrund hineinschaust, schaut der Abgrund in Dich hinein", muss er so etwas gemeint haben. Moodysson zwingt seine Zuschauer, in den Abgrund zu starren und dieser starrt einem bitter ins Gesicht, ohne zu zwinkern, ohne dem Blick auszuweichen. Ein erschtterndes, bedrohlich schleichendes Monster von einem Film.